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Wer einen Theologen bittet, die einführenden Worte zu einer Ausstellung zu sprechen, der bekommt genau das: einen Theologen. Und so komme ich nicht umhin, dem, was ich sagen will, eine Sequenz aus jenem Buch voranzustellen, das die Grundlage meines Denken und Handelns bildet. Ich lese Ihnen daraus einen Abschnitt aus dem 7. Kapitel der Weisheit Salomos (18-23):
»Anfang, Ende und Mitte der Zeiten; wie die Tage zu- und abnehmen; wie die Jahreszeiten wechseln und wie das Jahr umläuft und wie die Sterne stehen; die Natur der Tiere und die Kraft der Raubtiere; die Macht der Geister und die Gedanken der Menschen; die Vielfalt der Pflanzen und die Kräfte der Wurzeln; so erkannte ich alles, was verborgen und was sichtbar ist; denn die Weisheit, die alles kunstvoll gebildet hat, lehrte es mich. Denn es wohnt in ihr ein Geist, der verständig ist,/ heilig, einzigartig, vielfältig,/ fein, behend, durchdringend,/ rein, klar, unversehrt,/ freundlich, scharfsinnig, ungehindert,/ wohltätig, menschenfreundlich,/ beständig, gewiss, ohne Sorge; die Weisheit vermag alles, sieht alles, und durchdringt selbst all die Geister, die verständig, lauter und sehr fein sind.«
Was ist es somit, dass uns die Welt in ihrer Vielfalt und die Dinge im Einzelnen erkennen lässt? Es ist - unserem Text zufolge - die Weisheit. Also jene geistige Kraft, die nach Ansicht der griechischen Philosophie allen Menschen gleichermaßen innewohnt und die der Kirchenvater Augustinus definiert als die eine "Wahrheit, in der das höchste Gut gesichtet und erfasst wird".
Weisheit, das ist nach Augustinus Auffassung nicht bloß theoretisches Wissen um die Dinge, sondern Einsicht in die Dinge und Einsicht in das, was für den Menschen in letzter Hinsicht gut ist, worauf es in seinem Dasein also entscheidend ankommt.
Mag auch jeder und jede je anders bestimmen, worauf es in seinem Dasein entscheidend ankommt, so kommen Menschen doch alle gleichermaßen darin überein, dass sie überhaupt auf ein höchstes Gut und auf das damit verbundene Glück aus sind.
Es zeichnet somit die gereifte und selbstbewusste Persönlichkeit aus, nach dieser Weisheit zu streben, die sich nicht allein um Ansicht sondern um Einsicht in das Wesen der Dinge müht, die nach Erkenntnis strebt und sich auf die Suche nach einer allgemein gültigen Wahrheit macht. Mit dem christlichen Mystiker Bonaventura gesprochen ist diese Weisheit immer auch erfahrungsmäßige Erkenntnis Gottes.
Der Verfasser der Salomonischen Weisheit - ein über 3000 Jahre alter Text im übrigen - verweist auf die Kraft, die diesem Streben nach einer allgemeinen Weisheit und Wahrheit innewohnt. Ein reiner und klarer Geist nämlich, der verständig ist, scharfsinnig, feinfühlig, menschenfreundlich und beständig. Ein Geist, der dem Heiligen Ausdruck gibt, und es vermag, auch jene menschlichen Geister zu durchdringen und zu beseelen, die verständig, lauter und feinfühlig sind.
Einer dieser Geister - ob jetzt ein "guter" oder ein "böser", um das Motto der heutigen Ausstellung aufzugreifen, das mag mal dahingestellt bleiben und eher von jenen beantwortet werden, die das tägliche Leben mit ihm teilen - einer dieser verständigen, lauteren und feinen Geister, von den der biblisch-apokryphe Text zu seinem Ende spricht, ist sicherlich auch Rüdiger Goeritz.
Wer sein künstlerisches Schaffen über die Jahre hinweg begleitet hat oder durch Anschauung seiner Werke gewahr wurde, dem ist nicht entgangen, dass das große Thema des Fotografen, Kollagisten und Objektkünstlers Rüdiger Goeritz die Natur ist. Oder zumindest das, was wir heute pflegen Natur zu nennen und zu kennen - nämlich immer gebrochen - in unserer heutigen Wahrnehmung gar zerbrochen - an der uns innewohnenden Dialektik einer Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und der Notwendigkeit zur Herstellung künstlicher Umwelten unseres Überlebens zu willen.
Künstliche Welten schafft auch Goeritz. Aber seine Arbeiten sind darauf angelegt, die benannte Dialektik zu versöhnen, denn sie schlagen, wenn auch nur für den Moment des Betrachtens, eine Brücke zwischen dem Ursprünglichem, nicht von Menschenhand geprägten Dingen und Objekten der Natur zu unserer durch rationelle Vernunft geprägten und Interessen geleiteten Wirklichkeitswahrnehmung. Goeritz schlägt die Brücke, auf der sich die "Macht der Geister und die Gedanken der Menschen" - wie der biblische Text paraphrasiert - begegnen.
Wenn unser geschätzter und sachverständiger Kulturredakteur der WAZ, Hans Jörg Loskill, in einer seiner Beschreibungen Goeritz als einen "neugierigen und geduldigen Beobachter und einen behutsamen Bewahrer" benennt, der unseren von der "allgemeinen Bilderflut getrübten Blick auf den Mikrokosmos der Dinge" lenkt, so hat er ziemlich genau getroffen, wofür Goeritz' Arbeiten stehen.
Goeritz holt die Dinge aus der Beiläufigkeit ihrer Existenz, beseelt das Alltägliche, haucht dem Abgebildeten Leben ein und wird - theologisch gesprochen - in einem gleichsam mit-schöpferischen Akt dem Lebens spenden Geist Gottes, dem ru'ach, dem Lebenshauch Gottes, wie es wörtlich aus dem Hebräischen zu übersetzen ist, teilhaftig.
Das Goeritz das Gestaltungsmerkmal der Symmetrie wählt, kommt dabei nicht von ungefähr. Symmetrie ist die allgegenwärtige Charakterstruktur alles Lebendigen. Selbst im Chaos sind symmetrische Strukturen konstitutiv. Also im ursprünglichen Sinne des Wortes das Wesen einer Sache bestimmend.
Anschaulich prägt die Symmetrie unmittelbar unsere menschliche Wahrnehmung. Im symmetrischen erkennen wir Schönheit, Vollkommenheit, Eleganz, lassen uns spontan ansprechen und empfinden Sympathie. Die Symmetrie beseelt die Dinge auf fast mystische Weise. Formen gewinnen einen eigenen, individuellen Charakter, heben sich als Einzigartig hervor und bekommen so ihr unverwechselbares Gesicht.
Gesichter, lebendige Formen, beseelte Gestalten der Natur sind es denn auch, die auf den heute hier präsentierten Arbeiten erkennbar werden. Gute Geister und böse Geister hat Goeritz sie benannt. Kreatürliches also, das seine Existenz weniger dem Materiellen als dem Spirituellen verdank. Dessen Wesensmerkmale erst erkennbar werden, wenn man sich im Sinne des Augustinischen Weisheitsbegriffs einsenkt in die Betrachtung der Dinge, um das Verborgene im Sichtbaren zu begreifen.
Gute Geister - böse Geister weist aber auch auf die Ambivalenz dieses Erkennens hin. Denn der positiven Resonanzerfahrung einer gewonnen Erkenntnis, ist auch immer gleichzeitig das Erschrecken über das Erkannte zur Seite gestellt. Ein Erfahrung, die schon Adam und Eva machen mussten.
Das Ausgangsmaterial für die montierten Fotographien befand sich - man mag sagen: bezeichnender Weise - in der Mehrheit auf Friedhöfen. Auf den dort befindlichen Komposthaufen. Das Ausgangsmaterial, der Grabschmuck, war längst seiner eigentlichen Bestimmung enthoben, seiner primeren Verwertbarkeit entledigt, keines Blickes, keiner Anschauung, keiner Würdigung seines Wesens mehr wert.
In einer Wirklichkeit aber, in der es dann ausschließlich nur noch um die Verwertbarkeit der Dinge (und ich möchte ergänzen: der Menschen) geht, verliert sich das Gefühl von Heiligkeit und damit die Grundlage, zu Weisheit zu gelangen. Die reine Interessens geleitete Wahrnehmung unserer Wirklichkeit führt zur Verarmung unser seelischen Zustände.
Dem Betrachter des friedhöflichen Abfallhaufens nun mag man es nicht übel nehmen, dass er sich wenig um das Wesen des faulenden Grabschmuckes kümmert. Erhebt er aber seine auf Verwertung gerichtete und damit selektive Wahrnehmungsweise zum Prinzip allen Betrachtens, bleibt ihm die Erkenntnis der Bestimmung der Welt und seiner selbst letztlich verborgen.
Es ist der große Verdienst künstlerischer Arbeiten, wie wir sie heute hier von Rüdiger Goeritz sehen, sich gegen diese selektive, Interessens geleitete Wahrnehmung unsere Wirklichkeit zu stellen. Verbunden mit dem deutlichem Appell, sich der menschlichen Fähigkeit der Kontemplation zu erinnern und der sich in das Wesen einsenkenden Betrachtung der Dinge immer wieder neu zu öffnen.
Aber Goeritz heute hier gezeigte Arbeiten führen den flüchtigen Betrachter noch ein weiteres mal in die Falle seiner eingeschränkten Wahrnehmungen. Sieht man auf die Bilder, so glaubt man: Hat man eines gesehen, hat man alle gesehen. Das war - ich muss es zugeben - auch meine erste Reaktion. Es bedarf also, auch hier deutlich der Anstrengung, sich den Abbildern zuzuwenden, der eigenen innewohnenden Weisheit auf die Spur zu kommen, um das Verborgene im Sichtbaren zu erkennen.
Vielleicht reicht es für Sie als Besucherinnen und Besucher dieser Ausstellung wirklich, wenn sie sich auf eine der hier präsentierten Montagen konzentrieren. Sie mögen sich zunächst anziehen lassen von Farbe und Form, spontan einem Gefühl folgend, um sich dann mit dem Geschauten vertraut zu machen. Denn unser aller Weisheit wächst mit dem Vertrauen zu dem, was wir uns zueigen gemacht haben. - Vielen Dank.
Pfr. Thomas Schöps |