"Drum soll man nie vor den Gewalten der hohen
Obrigkeit den Schnabel halten.
Diese Herrn haben leider nur ein wenig Hirn, dafür
aber ein kapitales Brett vor ihrer Stirn."
François Villon (ca. 1431-1463)
Wiedergewinnung unserer spirituellen Existenz
Artikel für die Jubiläumsschrift des Friedrich-Spee-Gymnasiums,
Rüthen (Westfalen) anlässlich dessen 75jährigen Bestehens, S.
144-148.
(Im Rahmen einer Gegenüberstellung der Lebensgeschichten
von drei Freunden, die 1980 gemeinsam das Abitur machten und Theologen werden
wollten.)
Kirche
als Freiraum erlebt
ABI
80. Es war geschafft. Vor mir lag ein neuer Lebensabschnitt und ich war froh,
endlich der geistigen Enge des Sauerländer Kleinstadtlebens entfliehen zu
können. Die 70er Jahre hatten mich politisch sensibilisiert für all
die globalen Problemthemen, die uns heute noch beschäftigen: Sicherung des
Friedens, die soziale Ungerechtigkeit und die ökologische Krise. Zur
Überwindung dieser Probleme wollte ich in meinem beruflichen Leben betragen
helfen. So traf ich die Entscheidung, Theologie und Sozialwissenschaften zu
studieren. Diese Ausbildung sollte mir die notwendigen Möglichkeiten dazu
in die Hand geben. Theologie, weil ich die Kirche in meiner Jugend immer als
Freiraum erlebt hatte, der mir jenseits aller Bevormundung ermöglichte,
meine eigenen Gedanken, Fähigkeiten und Vorlieben entdecken und entwickeln
zu können. Sozialwissenschaften, weil ich mir neben der spirituellen Basis
die Aneignung soliden Handwerkszeugs für eine fundierte Gesellschaftskritik
versprach.
Studienreise
nach Asien
Nach
dem Abitur begab ich mich zunächst für 2 Monate auf eine Studienreise
nach Asien. Das theoretische Wissen um die weltweite strukturelle
Ungerechtigkeit bekam plötzlich ein reales Gesicht. Die Erfahrungen in den
Slums von Manila und Hongkong waren prägender als alles andere Erlebte
zuvor und legten einen für mein weiteres Leben entscheidenden
ethisch-moralischen Grundstein. Ich wollte und will mich auch heute nicht damit
abfinden, daß die Mehrheit der Menschen auf unserem Planeten verurteilt
ist, ein Leben jenseits den Möglichkeiten zu führen, die wir in den
sog. entwickelten Ländern schon lange als Standart für uns selbst
voraussetzen.
Theologie-Studium
Nach
der Rückkehr dann das Studium, zunächst in Tübingen und Marburg,
später Bochum. Das politische Engagement ging weiter und damit verbunden
die aktive Mitarbeit in Gremien der Fakultät, des AStA sowie die
Mitgliedschaft in einem politischen Studentenbund. Oft nahm diese Arbeit mehr
Zeit in Anspruch, als das eigentliche Studium. Wo ich allerdings letztlich mehr
gelernt habe, wage ich heute kaum zu benennen.
In
Tübingen zog ich mit drei anderen Theologen in eine Wohngemeinschaft. Eine
intensive Zeit der Diskussionen und Auseinandersetzungen begann und
Freundschaften entstanden, die mich bis heute tragen. Was uns verband und immer
noch verbindet, war das gemeinsame Interesse an einer Theologie, die den
Menschen Gott jenseits aller dogmatischen und traditionellen Prägungen
nahe zu bringen vermag. Eine Theologie, die weniger fordert, als daß sie
gibt, nämlich Hoffnung, Kraft und Zuversicht. Eine Theologie, die aber
auch in prophetischer Weise zu mahnen versteht, die Gottes Anspruch auf seine
Welt verteidigt gegen den Versuch, alles und jeden den herrschenden
ökonomischen Interessen Einzelner unterwerfen zu wollen. Eine Theologie,
die ein Ziel hat: die Befreiung des Menschen aus seiner selbst gewählten
Knechtschaft.
Zur
Absolvierung einiger Prüfungen legte ich einen Zwischenstopp in Marburg
ein. Dort traf ich wieder auf Uwe und Stefan. Ich genoß die gemeinsame
Zeit und den gemeinsamen Austausch nach nunmehr 3 Jahren getrennter Lebenswege.
Zusammen mit Stefan ging ich nach Bochum und widmete mich dort wie er in der Hauptsache dem Studium der
kirchlichen Industrie- und Sozialarbeit.
Theologie
der Befreiung
1989
dann das 1. Theologische Examen. Um die nun auf mich wartende Zeit bis zur
Aufnahme in das Vikariat zu überbrücken, ging ich nach dem Studium
für 14 Monate ins Ausland. Zunächst zum Studium nach Costa Rica.
Projektarbeit in Nicaragua, Guatemala und Honduras schlossen sich an. Hier die
Erfahrung, wie ich sie schon gut 10 Jahre zuvor in Asien hatte machen
müssen. Viel intensiver versteht sich, mit einer guten Ausbildung und
diesmal ausreichenden Sprachkenntnissen im Gepäck.
In
Mittelamerika beschäftigte ich mich in der Hauptsache mit der sog.
"Theologie der Befreiung", jenem theologischen Ansatz, der in Leben,
Tod und Auferstehung Jesu Christi ein Paradigma für die Befreiung der
armen Völker dieser Erde aus den Strukturen von Unterdrückung und
Fremdbestimmung sieht. Wenn das Evangelium frohe und befreiende Botschaft ist,
dann für jene Menschen in den ärmsten Ländern dieser Welt.
Beunruhigende Frage: "Können wir, die Reichen, dann noch gemeint
sein?"
Es
würde hier den Rahmen sprengen, all die für mich so entscheidend
prägenden Erfahrungen dieses einen Jahres nur annähernd berichten zu
können. In Kürze dies: Eher ätzend die vielen deutschen
Revolutionsromantiker in Nicaragua. Spannend, wenn auch nicht unproblematisch
das Zusammentreffen mit der salvadorianischen Guerilla und den Internationalistas
der ETA. Existenziell bedrohlich der selbst erlebte Hunger, die Angst bei
nächtlichen Angriffe us-amerikanischer Söldnereinheiten auf
Nicaraguanische Dörfer, das ungute Gefühl, bei Militärkontrollen
in Guatemala als Ausländer zwar privilegiert zu sein, aber nicht selten
den nackten Stahl eines Gewehrlaufes im Rücken verspürt zu haben.
Unendlich motivierend die Kontakte zu Ernesto Cardenal und Pablo Richard,
zweier bedeutender Befreiungstheologen. Positiv die Erfahrung, das ein Leben
jenseits unserer materiellen Absicherungen und konsumorientierten Gewohnheiten
lebenswert lebbar ist, und die daraus gewonnene Gelassenheit, einen
möglichen sozialen Absturz auch hier in Deutschland unbeschadet verkraften
zu können.
Bundesrepublikanische
Lebenswirklichkeit
Die
Fortführung meiner Ausbildung zwang mich zur Rückreise. Ich wäre
geblieben, hätte sich für mich eine berufliche Perspektive in
Mittelamerika und damit ein Auskommen ergeben. So aber ging ich 1990 ins
Vikariat nach Bochum und tauchte damit wieder voll in die bundesrepublikanische
Lebenswirklichkeit ein. Die lateinamerikanischen Erfahrungen begannen schnell
zu verblassen unter der Aufgabe, sich das Rüstzeug für die
pfarramtliche Praxis anzueignen. Predigen, taufen, trauen und beerdigen,
Seelsorge und Konfirmandenunterricht, Gemeindeleitung und Verwaltung, ich
begriff eigentlich erst jetzt, was für einen Beruf ich mir ausgesucht
hatte. Es gab Zeiten, in denen ich bereit war, wegen der emotionalen und
arbeitszeitlichen Belastung alles hinzuwerfen. Was mich hielt, war der feste
Wille, den eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Nach einem Sondervikariat am
Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SWI) dann das 2. Theologische
Examen. 1992 war es soweit. Ich verließ Bochum und ging auf meine erste
Gemeindestelle nach Gelsenkirchen.
Obwohl
ich schon während des Vikariates mein Unbehagen an der klassischen
Gemeindearbeit verspürte, arbeitete ich hier zunächst zwei weitere
Jahre. Je mehr ich mich aber mit den Menschen dort beschäftigte, mich auf
ihre Lebensgeschichten und -realitäten einließ, erkannte ich,
daß es sich auch hier vielfach geradem um die Zukurzgekommenen in unserer
Gesellschaft handelt, die in den kirchlichen Gemeinden einen Ort der Zuflucht
und eine Heimat suchen. Man musste also nicht erst nach Mittelamerika fahren um
zu erkennen, daß die herrschenden sozialen, ökonomischen und
politischen Strukturen auch in unserem Land die Gesellschaft spalten in wenige
Gewinner und viele Verlierer.
Gab
es dort eine Übermaß an sozial-materieller Verelendung, ist unserer
Lebenswirklichkeit eine zunehmende sozial-geistige Verelendung abzuspüren.
Die Seelsorge wurde eine meiner Hauptaufgaben und brachte die Erkenntnis mit
sich, daß eine theologische Existenz neben ihrer politischen Dimension
auch und vor allem eine spirituelle Dimension zu leben und zu verkörpern
hat, wenn die christliche Botschaft ihrem umfassenden Anspruch als universale
Botschaft des Heils und der Heilung gerecht werden will.
Obgleich
mir die Arbeit mit den Menschen in der Gemeinde mehr und mehr Freude bereitete,
merkte ich aber doch sehr schnell, daß dies auf Dauer nicht mein Ort sein
kann. Noch mehr interessierten mich die Menschen, die der Kirche fern stehen,
kritisch der Organisation gegenüber sind , aber doch auf der Suche nach
spirituelle Sinngebung und Glaubensgewissheit. In meiner eigenen Distanz zur
Institution Kirche waren sie mir näher als jene, die ungebrochen, oft
unreflektiert und bedauernswert wenig charismatisch, ihre christliche Existenz
in den Gemeinden lebten.
Kirche
für die Stadt
So
zögerte ich keinen Augenblick, als mir das Amt des Studierendenseelsorgers
an der Gelsenkirchener Fachhochschule angeboten wurde. Verbunden mit einem Lehrauftrag im Bereich Sozialethik kam ich in den
gewünschten Kontakt mit jenen Menschen, die wenig oder gar nicht mehr in
den kirchlichen Gemeinden auftauchten. Erst vor kurzem habe ich die
Arbeit an einen Kollegen übergeben, um mich ganz meinen neuen Aufgaben
widmen zu können.
Schon
während meiner Zeit an der FH Gelsenkirchen wurde ich vom Kirchenkreis
Gelsenkirchen beauftragt, eine Konzeption für eine übergemeindliche
Stadt- und Kulturkirchenarbeit zu entwickeln. Auch diese Arbeit richtet sich
insbesondere an jene, die sich nicht mehr in einer Gemeinde verorten wollen
oder können, sondern nach punktuellen und unverbindlicheren Begegnungen mit
der Kirche und der christlichen Lehre suchen.
Mittlerweile
ist die Gelsenkirchener Bleckkirche, an der ich diese übergemeindliche
Arbeit anbiete, zu einem Ort der erfahrbaren Verbindung von
zeitgenössischer Kultur und Glaube, von Gesellschaft und Religiosität
geworden. Neue Formen und Inhalte christlicher Verkündigung, aktuelle
Themen aus Kultur, Gesellschaft und Politik, Musikalisches und
Künstlerisches, Literarisches und Profanes, Tanz und Theater finden dort
in ihr Raum und als Kirche für die Stadt lädt sie alle ein, die an
dieser Verbindung interessiert sind, ohne Blick auf Konfession,
Kirchenmitgliedschaft oder Religionszugehörigkeit.
Religion
und Künste sprechen vielfach die gleiche Sprache. Zumindest da, wo sich
beide als Medium der Suche nach der Transzendierung unserer
Lebenswirklichkeiten begreifen, sich der zunehmenden Funktionalisierung der
menschlichen Existenz durch die Ökonomisierung aller unserer
Lebensbereiche entgegenstellen und sich der Frage nach der Beziehung zwischen
dem Menschlichen und dem Göttlichen jenseits aller kommerziellen
Verwertbarkeit stellen. Die Wiedergewinnung unserer spirituellen Existenz ist
zur politischen Aufgabe geworden.
Ende
Juni diesen Jahres ging das von mir verantwortetet Kulturprogramm an der
Gelsenkirchener Bleckkirche in die Sommerpause. Zum Abschluss kam eine
Inszenierung über das Leben und Werk des François Villon zur
Aufführung. Villon bedeutender französischer Lyriker des
Spätmittelalters, gleichzeitig Magister und bekannter Stadtstreicher
stellt in seinen Gedichten, Balladen und Liedern den derben Witz
zeitgenössischer Gaunersprache neben echte Frömmigkeit und ernsthafte
Weltbetrachtung. Über ein halbes Jahrtausend ist Villon nun tot.
Überraschend aktuell wirkt seine philosophische Poesie allerdings heute
noch. Seine Verse sind auch in puncto Kirche und staatlicher Gewalt
freimütig und drastisch. Villon klagt an, die Verlogenheit, Geltungssucht
und Brutalität der Mächtigen, die er an eigenem Leib erfahren
mußte. Alle Male bleibt seine Haltung bedenkenswert: "Drum soll man
nie vor den Gewalten der hohen Obrigkeit den Schnabel halten. Diese Herrn haben
leider nur ein wenig Hirn, dafür aber ein kapitales Brett vor ihrer
Stirn."
Thomas
Schöps, Pfr.
Gelsenkirchen,
im Juli 2001