Predigt zum Erlassjahr 2000

ACK-Pfingstgebet - 24. Mai 1999 - Bleckkirche


 

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt, unser Freund und Heiland Jesus Christus. - Amen.

 

Liebe Gemeinde!

Der ökumenische Rat der Kirchen feiert seinen 50. Geburtstag - und das ist ein Grund zu feiern! Wir feiern 50 Jahre, in denen aus einer kleinen Amsterdamer Konferenz eine weltweite Bewegung geworden ist. Wir feiern 50 Jahre, in denen die Kirchen der Welt zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen sind, in der Christinnen und Christen aus allen Kontinenten zusammenarbeiten. Und wir feiern 50 Jahre, in denen wir gelernt haben, untereinander unsere Erfahrungen zu teilen, um miteinander im Glauben zu wachsen.

 

Deshalb blickt die Ökumene in diesen Tagen auch nicht nur zurück auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Weltrat der Kirchen als eine der Organisationen gegründet wurde, die den Menschen zu einer besseren, gerechteren und friedlicheren Zukunft verhelfen sollten. Der Blick der Kirchen richtet sich zugleich voraus auf das, was nach dem biblischen Vorbild ein wirkliches Jubeljahr ausmacht: Die Befreiung der Menschen von ihren Schulden und die Chance zu einem neuen Anfang! - Ich lese als Predigttext die Anordnungen über das biblische Erlassjahr aus 3.Mose (Lev) 25,1-13.

 

"Erklärt das 50. Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es soll ein Erlassjahr für Euch sein, in dem jeder von Euch wieder zu seinem Besitz kommt. " (3. Mose 25,10).

 

Im alten Israel war Land überlebenswichtig. Wer kein Land hatte, war auf die Almosen anderer angewiesen, wenn er nicht mit seiner ganzen Familie in die Schuld Knechtschaft geraten wollte. Die Rückgabe des Landes und der Schuldenerlass im 50. Jahr bedeuteten die Chance zu einem wirtschaftlichen Neuanfang, ein Ende der Abhängigkeit und zumindest die Möglichkeit, einmal wieder auf eigenen Beinen zu stehen.

 

An diese Tradition des biblischen Erlassjahres erinnert die Ökumene anlässlich ihres 50. Geburtstages. Denn wenn wir unsere biblische Überlieferung ernst nehmen, dann kann es für die Gläubigen in der Welt nur einen Grund zum Jubeln geben, wenn auch die Armen in der Welt die Chance zu solch einem wirtschaftlichen Neuanfang erhalten.

 

Das ist doch etwas, das wir in vielen ökumenischen Begegnungen mit Menschen aus den so genannten Entwicklungsländern gelernt haben. Unsere Schwestern und Brüder aus den armen Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien sagen uns immer wieder: "Die Ursachen vieler unserer Sorgen und Probleme liegen nicht hier bei uns, sondern bei Euch in den reichen Ländern! Wir möchten unsere Kinder gerne in die Schule schicken, aber wir haben kein Geld dazu. Wir würden gerne unsere kirchlichen Krankenhäuser und Krankenstationen ausbauen, aber wir wissen nicht, wie wir das bezahlen sollen, weil der Staat sich aus diesen Aufgaben immer weiter zurückzieht. Und wir würden gerne wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen, aber die Regeln Eures Marktes lassen uns dazu keine Chance!"

 

Für die wirtschaftliche Not der Menschen in den armen Ländern gibt es sehr unterschiedliche Gründe, aber es gibt einen ganz wesentlichen Faktor, der immer daran beteiligt ist: Die Verschuldung der armen Länder der Welt bei den reichen Industriestaaten. Und deshalb fordern die Kirchen der Welt für die armen Länder in der Welt einen weitreichenden Schuldenerlass im Jahr 2000, ein "Erlaßjahr 2000"!

 

Viele arme Länder zahlen heute mehr Geld an Deutschland, als sie umgekehrt als Entwicklungshilfe erhalten. Schuld daran ist die Überschuldung ihrer Regierungen, die zum Teil noch in die 70er Jahre zurückreicht, in denen die Entwicklungsländer Kredite aufgenommen hatten, um ihre Länder zu modernisieren. In der Zwischenzeit sind die Ölpreise und Zinsen gestiegen, die Preise für die Produkte aus den Entwicklungsländern aber wurden immer weiter in den Keller gedrückt. Das hat dazu geführt, dass diese Länder trotz aller Anstrengungen ihre Kredite und Zinsen nicht mehr bezahlen konnten und sich ihr Schuldenstand immer weiter erhöht hat.

 

Heute geben die Länder Afrikas südlich der Sahara im Schnitt viermal soviel für den Schuldendienst wie für ihre Gesundheitsfürsorge aus. Das hat so absurde Konsequenzen, dass eine Marktfrau in Tansania im Verhältnis zu ihrem Einkommen mehr an Deutschland zu zahlen hat, als wir Deutsche über unseren Solidaritätszuschlag. für die deutsche Einheit aufbringen müssen!

 

Welche Auswirkungen diese Schuldenpolitik für die Menschen in den hoch verschuldeten, armen Ländern hat, berichtet Dr. Adabayo Adedeji vom Afrikanischen Zentrum für Entwicklungsstrategien: "Eine Frau brachte ihre zwei Kinder zu einem Arzt in Sambia. Eines war drei Jahre alt, das andere dreizehn. Beide waren krank. Der Arzt verschrieb die Behandlung. Sie dankte ihm und ging. Als er sie einige Zeit später wiedertraf, fragte er, wie es ihren Kindern ginge. Sie erzählte ihm, dass das jüngere Kind gestorben sei. Sie hatte nicht genug Geld für die Behandlung von beiden Kindern, so entschied sie sich unter großen Schmerzen für die Behandlung des älteren. Diesem ging es bald besser, aber die Mutter hatte mit anzusehen, wie das jüngere Kind starb."' Dr. Adedeji schreibt: "Die Verschuldung bringt unsere Schulen und Kliniken zum Zusammenbruch und die Folgen sind nicht weniger verheerend als Krieg."

 

In Deutschland sorgt das Konkursrecht dafür, dass die Grundbedürfnisse des Einzelnen auch bei einer Überschuldung gesichert bleiben. Im internationalen Finanzverkehr gibt es keinen solchen Schutz der Lebensgrundlagen der armen Menschen. Sie bezahlen den Schuldendienst ihrer Länder mit ihrem Leben. Dabei weiß jeder, dass die armen Länder diese horrenden Schuldenstände, die oft ein Vielfaches der ursprünglichen Kreditsumme ausmachen, niemals zurückzahlen können und dass die Zahlungen, die jetzt geleistet werden, von den Armen bezahlt werden, die dafür auf eine bessere Gesundheitsfürsorge, auf kostenlose Schulen und eine ausreichende Ernährung verzichten müssen.

 

Einen solchen Teufelskreis der Verschuldung, aus dem sich die Betroffenen selbst nicht befreien können, sollen die biblischen Bestimmungen zum Erlassjahr verhindern. Die Bibel ruft nicht nur zur praktischen Nächstenliebe gegenüber den Armen auf. Sie fordert auch wirtschaftliche Strukturen und Vorgehensweisen, die den Armen und Verschuldeten die Chance zu einem wirtschaftlichen Neuanfang geben - und zwar nicht als Akt der Barmherzigkeit, sondern als Gebot Gottes!

 

Wie so etwas unter den Bedingungen einer modernen Wirtschaftsordnung aussehen kann, dafür gibt es ein konkretes Beispiel: Vor fast fünfzig Jahren wurden einem hoch verschuldeten Land mit einer daniederliegenden Wirtschaft seine Auslandsschulden weitgehend erlassen, um dem Schuldnerland einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen. Dieses Land war die Bundesrepublik Deutschland! Im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens vom 27.2.1953 wurden dem kriegszerstörten Deutschland über 50% seiner Vor- und Nachkriegsschulden bei ausländischen Staaten, Banken und Privatanlegern erlassen (insgesamt rund 14,6 Mrd. DM). Der Rest wurde so umgeschuldet, dass die Rückzahlungen unter 5% der deutschen Exporteinnahmen blieben. ohne dieses Schuldenabkommen hätte es Deutschland berühmtes "Wirtschaftswunder" wohl nie gegeben. Die neue Währung konnte stabilisiert werden, ausländische Firmen fassten Vertrauen zu Investitionen in den deutschen Wiederaufbau, Deutschland konnte seine Restschuld sogar vor der Zeit zurückzahlen.

 

Genau diese Vorgehensweise des Londoner Schuldenabkommens ist heute das Vorbild für die "Erlassjahr 2000"Kampagne. Weil es ein historisches Beispiel für einen Entschuldungsprozess ist, der eine nachhaltige Entwicklung im Schuldnerland ermöglicht hat und weil dessen Vorgehensweise dem Grundgedanken des biblischen Erlassjahres entspricht. Uns Deutschen wurden nach dem Krieg unsere Auslandsschulden erlassen, damit wir wieder wirtschaftlich auf die Beine kommen. Nach denselben Kriterien sollten nun auch wir den ärmsten Ländern in der Welt den Teil der Schulden erlassen, den sie nicht zurückzahlen können!

 

Ich möchte noch einmal auf die biblische Grundlegung des Erlassjahres zurückkommen. Denn Jesus selbst hat die alttestamentliche Forderung nach einem Schuldenerlass mehrfach aufgegriffen. In seinen Predigten (vgl. Lk 4,1 8f), im Vaterunser (Mt 6,12) und in einem seiner bekanntesten Gleichnisse, dem Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23-35):

In diesem Gleichnis wird einem Knecht von seinem Herrn eine ungeheure Summe erlassen, die Schuld von 10.000 Talenten. Das entspricht ungefähr dem hundertfachen des Jahressteueraufkommens von Galiläa zur Zeit Jesu, also durchaus einer Größenordnung, mit der wir es heute bei der Verschuldung der armen Länder zu tun haben. Und dieser Knecht, dem gerade erst ein Vermögen erlassen wurde, packt einen anderen, der ihm eine verschwindend geringe Summe schuldig geblieben ist und presst aus ihm heraus, was noch zu holen ist.

 

Es gibt wenig Stellen in der Bibel, bei denen die historischen Parallele so eindeutig ist. Denn genauso unbarmherzig wie dieser Knecht verhält sich heute die deutsche Regierung gegenüber den hoch verschuldeten, armen Ländern, auch wenn deren ausstehende Schuld im Verhältnis zu unserem Vermögen noch so gering ist. Und deshalb richtet sich die Frage Jesu aus dem Gleichnis heute an uns: "Hättest nicht auch Du mit jenem, der gemeinsam mit Dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit Dir Erbarmen hatte?" Der Zentralausschuss des ÖRK, der Lutherische Weltbund, die Europäische Kirchenkonferenz in Graz, der Allafrikanische Kirchenkongress, die lateinamerikanische Bischofskonferenz und der Vatikan haben die Gläubiger in der Welt aufgerufen, die Forderung nach einem "Erlassjahr 2000" für die armen Länder der Welt zu unterstützen.

 

Wenn Sie sich eingehender darüber informieren möchten, können sie am Ausgang diese rosa Zettel mitnehmen. Wenn einer der Presbyterinnen und Presbyter meint, dass das Presbyterium sich mit dieser Kampagne identifizieren sollte und sie mittragen soll, können sie so große Zettel mitnehmen. Und wenn jemand unter ihnen sagt: Ich möchte die Grundgedanken des biblischen Erlassjahres tatsächlich mit diesem Jahr 2000 auch auf unserer Welt wieder in die Tat umgesetzt sehen. Ich finde mich nicht damit ab, dass mehr als eine Milliarde Menschen die Jahrtausendwende in lebensbedrohender Armut erleben. Ich will, dass ihnen im Jahr 2000 ein Neuanfang ermöglicht wird. Ich fordere deshalb von den Banken, der Bundesregierung und den internationalen Finanzinstitutionen einen umfassenden Erlass der untragbaren Schulden. Ich erwarte, dass die dadurch frei werdenden Gelder dazu benutzt werden, die Möglichkeiten der Armen zur Selbsthilfe zu stärken. Ich will, dass der verhängnisvolle Kreislauf der Verschuldung durchbrochen wird. Wenn sie all dies unterschreiben könnten, dann dürfen sie es nachher beim Herausgehen auch tun. Das ist der zweite gelbe Zettel, genau dieser Appell der Kampagne Erlassjahr 2000.

 

Und wir können dazu mithelfen, indem wir uns jetzt schon den 19. Juni 1999 für eine Fahrt ins Rheinland freihalten. An diesem Tag treffen sich nämlich die wichtigsten Gläubigerländer der Welt zum "G8"-Gipfel in Köln. Dort wird die Entscheidung für oder gegen einen Schuldenerlass zugunsten der armen Länder der Welt fallen. Gemeinsam aus der gesamten Ökumene sollen dann über 100.000 Menschen eine Menschenkette für ein "Erlassjahr 2000" bilden, die die Kette der Verschuldung durchbricht.

 

Unsere Schwestern und Brüder in Ghana oder Tansania, in Peru oder Bangladesch arbeiten so hart wie wir. Oft schon als Kinder und oft unter viel schwierigeren Bedingungen. Und sie fordern nicht mehr als dies, dass ihnen ihr Verdienst für ihre Arbeit nicht von unserer Regierung und unseren Banken weggenommen wird. Helfen Sie mit, dass das Jahr 2000 auch für sie zu einem Jubeljahr wird! - Amen!

 


 

Der dazugehörige Gottesdienstablauf kann als Word-Datei heruntergeladen werden

 

» ACK Pfingstgebet 1999 - Ablauf